www.gheinz.de
Δ up

Spiegelnde Projektionen und Interferenzmuster

Textteil

Ein Grundproblem biologieorientierter Informatik sind die vielen, aus jedem Nervenbündel, aus jeder Nervenfaser entspringenden Verzweigungen. Sowohl axonaler, als auch dendritischer Baum verzweigen enorm stark. Es existiert nicht eine Nervenzelle, die mit nur einer einzigen anderen verbunden wäre.

Wie aber soll gezielte Datenkommunikation stattfinden, wie soll das Hirn genau den kleinen Zeh adressieren, wie wollen wir erfahren, daß uns etwas in den kleinen Finger gestochen hat, wenn sich jede Information auf hunderte oder Tausende von anderen Neuronen ergießt, die sie ebenfalls an völlig andere Stellen weiterleiten können? Welches sind die 'Gates', die verhindern, daß eine Information den falschen Weg geht?

Bei der Untersuchung dieser Frage stießen wir auf die spike-artige Impulsform. Zusammen mit der Möglichkeit der vielfachen Mehrfachausbreitung eines Signals ergeben sich in einem Netzwerk für jede Informationsquelle aus der Betrachtung der Delays einzelner Zweige nur definierte Senken 'Adressen'. Nicht etwa die Verschaltung bewirkt eine Adressierung, sondern dynamische Netzwerkeigenschaften.

Diese dynamischen Eigenschaften biologischer, nervlicher Netzwerke können jetzt in der Simulation verifiziert werden. Zwei dichtvermaschte, neuronale Felder (in der Simulation Ebenen) sind mit wenigen, axonalen Leitungen verkoppelt. Die Erregung ist im jeweils anderen Filz dort am höchsten, wo alle Teilimpulse einer Erregungsquelle im anderen Haufen zur gleichen Zeit eintreffen, wenn angenommen wird, daß alle Neuronen direkt oder indirekt an die axonalen Verbindungsleitungen angeschlossen sind. Auch wird eine bestimmte Ausbreitungsgeschwindigkeit vorgegeben, mit der sich Impulswellen kreisförmig ausbreiten.

Die Frage, wie trotz filzartig vernetzter (häufig mehrfach miteinander kurzgeschlossener) Nervenzellen definierte Daten an definierte Adressen versendbar sind, und durch welchen Mechanismus es gelingen kann, daß Erregungen, die sich zunächst auf allen möglichen Nervenbahnen vom Ort einer Erregung ausbreiten, letztlich an der für ihre Verarbeitung zuständigen Stelle ankommen können, steht seit jeher im Zentrum des Interesses biologieorientierter Informatik. So sind vielfältige Informationsströme im Hirn untersucht, bei denen immer wieder verblüfft, daß Signale trotz unendlich vielfältiger Möglichkeiten im Nervenfilz zu verzweigen, doch nur an definierten Stellen Erregungen auslösen. Sobald scharfe Pulsnadeln benutzt werden, und jedes Signal auf mehreren Bahnen übertragen wird, ergeben sich Interferenzen, die die Adressierung von Daten steuern. Erstmals ist es mit der im Team entwickelten Software PSI-Tools möglich, die Orte interferenzieller Erregung zu berechnen.

Klassisch neuronale Modellvorstellungen der Pool of Neurons-Formen von McCulloch/Pitts über Amari bis PDP etc. stellen den Zusammenhang zwischen Raum und Zeit nur oberflächlich dar. Wesentliche Ergebnisse können durch eine Diskretisierung von Delays prinzipiell nicht gewonnen werden, interferentielle, dynamische Adressierung muß verborgen bleiben.

Verschiedene Pulsnadeln können stets nur an dem Ort eine Erregung auslösen, wo sie zeitgleich zueinander in Interferenz treten. In einer Urform von Interferenzsystemen, die heute noch für 'temporal coding' benutzt wird, ist dieser Gedanke bereits enthalten: Man nutzt das Sample, um verschiedene, aufeinander folgende Werte in Scheininterferenz zu bringen. Es scheint so, als wollten wir einen Wellenozean mit einem linearen Gleichungssystem berechnen wollen, in welchem die Zeit explizit nicht als Parameter auftaucht, siehe Seite 'Introduction'.

Mit pulspropagierenden Simulatoren auf Basis der Hodgkin/Huxley-Gleichungen ist man derzeit zwar in der Lage, einige Dutzend Neuronen zu simulieren. Um den spezifischen, pulsbehafteten Informationsaustausch nervlicher Strukturen gedanklich zu erfassen, oder nervliche 'Pulsgewitter' zu interpretieren, sind weitere Überlegungen nötig: Ohne eine zu verifizierende Theorie erscheint es müßig, der Natur Fragen stellen zu wollen.

Der Autor untersuchte 1992/1993 auf physikalisch-mathematischem Niveau die Ausbreitung von Impulsen auf der Basis von Zeitfunktionen. Die Ergebnisse sind im Manuskript ('Neuronale Interferenzen', 300 S.) zusammengefaßt. Es zeigt sich, daß in stochastisch verschalteten Netzen Interferenzen offenbar eine ganz entscheidende Rolle spielen können. Eine neue 'Bio-Logik' entsteht, die mit bisherigen, ortsgebundenen Logiken nichts gemein hat. Für die Erkennbarkeit biologischer Vorgänge scheint es wesentlich, die Annahme des Pools of Neurons aufzugeben, und zu akzeptieren, daß ein inkrementales Wegelement dx mit einem inkrementalen Delay dt verbunden ist, statt anzunehmen, daß dx und dt benachbarter Neuronen vernachlässigbar seien. Mit verblüffender Einfachheit wird man neue Prinzipien für eine 'Biologik' entdecken, siehe folgende Seiten.

Die Beantwortung vieler Fragen scheint in der Untersuchung dynamischer Wellenvorgänge, die mit dem nadelförmigen Charakter von Nervenimpulsen und deren langsamer Ausbreitungsgeschwindigkeit einhergehen, zu liegen. Vergleichbar zu optischen Abbildungen wirken Wellenausbreitungen auf Nervennetzen abbildend (projizierend), wir finden spektrale Erregungskartierungen ebenso, wie holographische Speicherung. Über die von optischen und akustischen Wellenfeldern bekannten Eigenschaften hinausgehend wurden mit dem (downloadbaren Simulator PSI-Toools) in der Simulation erstmalig völlig unbekannte Eigenschaften verifizierbar. Neben Zooming und Moving sind dies verschiedene Arten von Phantomerregung, spektraler Kartierung etc..

Gewöhnlich wird das langsame Vorankommen (5 µm/s...120 m/s) von Nervenimpulsen einer Länge größer 0.1ms als eine Art evolutionäres Manko im Vergleich zur hohen Leitgeschwindigkeit elektrischer Leitbahnen betrachtet. Gerade aber durch diese langsame Leitgeschwindigkeiten entsteht eine ganz spezifische, neue Form der Informatik.

Unter der Voraussetzung, daß die geometrische Impulsbreite ein Produkt aus Laufgeschwindigkeit v und Impulsdauer tau ist, entstehen in biologischen Netzwerken scharfe Wellenfronten der Breite v*tau, die sich im dicht verflochtenen Dendriten- und Axonennetz (dem 'Nervenfilz') in etwa kreisförmig um eine Erregung herum ausbreiten. Soll nun ein Neuron eine Verarbeitungsaufgabe übernehmen, so ist es erforderlich, daß die erregenden Partialwellen genau gleichzeitig eintreffen, um den Schwellwert dieses Neurons zu überschreiten, und die Ausgabe eines Pulses zu bewirken. Folglich regelt der Ort, an dem ein Neuron lokalisiert ist, dessen informationelle Aufgaben. Andersherum: Sitzt ein Neuron am falschen Ort, kann es eine bestimmte Aufgabe nicht erlernen und nicht erfüllen, selbst wenn es wollte: Niemals werden dann alle zur Anregung benötigten Impulsfronten gleichzeitig eintreffen, somit wird es auch kein Erreichen eines für diese Ausgabe nötigen Schwellwertes geben. Folglich beeinflußen dicken- und längenproportionale Verzögerungszeiten von Dendriten und Axonen (und nicht nur synaptische Stärken!) in erheblichem Maße die Funktion eines bio-logischen Netzwerkes. Im Gegensatz zu landläufigen Annahmen nehmen die Welleneigenschaften im Nervennetz sogar noch zu, je langsamer die Ausbreitungsgeschwindigkeit wird.

Da herkömmliche, pulspropagierende Simulatoren (z.B. für Hodgkin-Huxley-artige, pulspropagierende Neuronenmodelle) nicht leistungsfähig genug sind, um die Dynamik größerer Areale von Neuronen als Funktion des Ortes und der Zeit genau genug berechnen zu können, entwickelten wir mit teilw. Förderung durch das Bundesministerium für Wirtschaft (BMWi) eine spezielle Software zur Rekonstruktion neuronaler Abbildungen (siehe 'PSI-Tools'). Unter Maßgabe eines vereinfachten Neuronenmodells und homogener Laufzeiträume können damit globale Kommunikationseigenschaften einer Million Neuronen in spezifischer Weise modelliert werden, das sind etwa 0,1 Promille der Neuronen unseres Nervensystems. Zum Vergleich: von unserem Nervensystem nimmt man an, daß es etwa zehn Milliarden Neuronen besitzt.

Der Simulator verbindet zwei homogene, dreidimensionale Neuronenensembles über Kanäle (Nerven) miteinander, ein Laufzeitraum wirkt als Sende- einer als Empfangsraum. Kanalpositionen, Leitgeschwindigkeiten und Verzögerungszeiten der Kanäle sind im Sende- wie im Empfangsraum frei wählbar. Vereinfachend wird angenommen, daß alle Neuronen beider Ensembles Verbindungen zu allen, beide Ensembles verbindenden Axonen haben. Verbindungen zwischen den Neuronen der einen oder anderen Schicht sind derzeit noch nicht vorgesehen, die Rechenzeiten sind schon derzeit zu hoch. PSI-Tools wurde mit dem Ziel entwickelt, erstmals theoretisch bereits von Jefress (1949) erahnte Puls-Abbildungen simulativ verifizieren zu können.

Mit dem Simulator gelingt es, den wellenartigen Fluß von Zeitfunktionen über Sende- und Empfangsfelder nachzuvollziehen, zu untersuchen sowie Fragestellungen für biologische Untersuchungen zu entwickeln. Eine spezifische Form dieser Abbildungen stellen fremdinterferenzielle Abbildungen und Codierungen dar, die in der Kernphysik und Optik vergleichbar als Spektren bezeichnet werden.

Anhand von filmartig ablaufenden Momentaufnahmen der Wellenfelder wie auch anhand der Entwicklung von Interferenz-Integralen über diese Wellenfelder kann dargestellt werden, wie neuronale Abbildungen entstehen, wie sich ein Bild einer neuronalen Abbildung unter dem Einfluß geringer Leitgeschwindigkeitsänderungen im Raum zu bewegen beginnt, wie es vergrößert, verkleinert, verzerrt oder mit anderen Bildern (Merkmalsräumen) verknüpft werden kann. Die resultierende Versuchsanordnung entspricht z.B. einer von experimentierenden Neurobiologen gefundenen Anordnung, die für Träume verantwortlich sein soll. Interessant an diesen neu entdeckten Möglichkeiten ist die Tatsache, daß es mit herkömmlichen, logischen Elementarschaltungen nicht möglich ist, Zooming und Moving zu modellieren oder zu erklären. Andererseits sind diese Eigenschaften unverzichtbarer Teil unseres bildlichen Vorstellungsvermögens.

In neuronalen Laufzeiträumen werden Impulswellen verschiedener Herkunft miteinander verknüpft, gleich, ob sie ursprünglich zu demselben oder zu einem Vorgänger- oder Folgeimpuls gehörten. Indirekt gehen damit die Amplituden neuronaler Signale, die als Pulsdichtemodulation auftreten, in Ortszuordnungen (in das Gelernte) mit ein.

In der Simulation kann gezeigt werden, wie die Anzahl der an einer Abbildungsübertragung beteiligten Kanäle die Möglichkeit von Bild-Zooming und -Moving beeinflußt. Um Bilder im Bildraum bewegen zu können, sind kleine Kanalzahlen (3...4) erforderlich. Werden höhere Kanalzahlen benutzt (>8), verschwinden die Abbildungen bei Verzerrung der Laufzeitgeometrie des Bildraumes, dafür aber sind sie immun gegen Fremdinterferenzen und Störungen. Niederkanalige Abbildungen scheinen musische Phantasie, hochkanalige bildgebende Rationalität zu verkörpern, zeigt die Simulation.

Der Einfluß der Pulsdichte (Refraktärität), der in vielerlei Hinsicht Einfluß auf die Abbildungsqualitäten hat, kann die Wirkung von Psychopharmaka demonstrieren. Wird die Pulsdichte auf den Kanälen zu hoch gewählt, entstehen Phantombilder im Empfangsraum.

Wird eine Projektion durch eine zu hohe Kanalzahl oder durch Entgleisung von Delay-Parametern beteiligter Axonen überbestimmt, verlischt vergleichbar zum Schlaf jede Aktivität im Empfangsraum.

Treten in einem Emfangsraum zu hohe Leitgeschwindigkeiten auf, oder wird ein Empfangsraum durch zu geringe Refrakterität der übertragenden Axonen zu stark befeuert, entstehen in der Simulation Phantombilder (siehe den Bildrand der GH-Rekonstruktion, zweite Abb.). In der Simulation können in Abhängigkeit von der Kanalzahl und von Pulsparametern die Grenzen dafür bestimmt werden. Wird ein Feld noch stärker befeuert, so nimmt der Phantomanteil progressiv steigend zu, bis das gesamte Feld 'überläuft'. Allmählich wird die Abbildung zerstört, sie geht unter in einer Übererregung des gesamten Feldes. Unwillkürlich ist man versucht, an die Konsequenzen starker Schmerzen zu denken: der verursachende Körperteil läßt sich kaum mehr steuern.

Werden vergleichbar zum menschlichen Auge eine Vielzahl von Kanälen zur Informationsübertragung benutzt, entstehen unter realitätsnahen Nebenbedingungen Bilder, die holographischen Projektionen ähnlich sind. In der Simulation mit PSI-Tools gelingt es, Hologramme solcher vielkanalig übertragenen Erregungskarten zu berechnen, die eine interessante Eigenschaft besitzen können: Oft reduzieren Sie die abzubildende Erregungskartierung auf wenige, ausgezeichnete Punkte.

Vom Senderaum zu stark befeuerte Übertragungskanäle veranlassen, daß im Empfangsraum Phantomerregung durch Fremdinterferenz entsteht, im Empfangsraum beginnen mehr und mehr Nervenzellen zu feuern, die eigentlich nicht erregt sein sollten. Schließlich quillt der ganze Empfangsraum vor Erregung über, Erregungskartierungen und jegliche Funktion gehen in der Simulation verloren. Schmerz könnte somit mehr eine wellentheorethisch begründbare, denn eine substanziell zu verstehende Eigenschaft sein, wäre zu folgern.

Selbst der einzelnen Nervenzelle kommen unter Einbeziehung dynamischer Gesichtspunkte völlig neuartige Funktionen zu: Unter Nutzung eines an der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft Berlin entwickelten, pulspropagierenden Neurosimulators konnten erstmals drei wesentliche, neue, dynamische Grundfunktionen des einzelnen Neurons dargestellt werden: Code-Detektion, Code-Ausschüttung und Gleichpegelgewinnung. Mit diesen neuen, informationellen Grundfunktionen einer Nervenzelle ist es möglich, Bursts (das sind kurze Pulsgewitter) als nervliche Datenadressierung zu verstehen und zu berechnen. Start- oder Zieladresse einer Information können aus der Delay-Maske eines Bursts bestimmt werden. Jede Burstform auf einem einzelnen Axon ist einem Informationsaustausch definierter, voneinander verschiedener Sender und Empfänger zuzuordnen.

Erste Ergebnisse bieten einen Ansatz, neuronale Potentialfelder und Pulsgewitter, wie sie bei Messungen am Pallium beobachtet werden können, verstehen zu lernen. Um Dateninhalte und Adressen neuronaler Informationen an lebenden Systemen zu ermitteln, ist der Simulator mit einem mehrkanaligen Meßverstärker verbunden. Invasive und nichtinvasive, experimentelle Untersuchungen können vorgenommen werden.

Teilweise noch widersprüchliche Ergebnisse zur Praxis von Neurobiologen, Neurochirurgen und Neurophysiologen zeigen, daß Informationsverarbeitung biologischer Netzwerke fallabhängig sowohl mit genetisch determinierter Verschaltung als auch mit dynamischen, neuronalen Abbildungen untersucht werden sollte. Der gewählte, physikalische Ansatz gestattet es, mit biologisch relevanten Netztopologien biologisch relevante Funktionen des zu untersuchenden Netzwerks nachzubilden. Grenzen statischer Modellierungen der Kategorie künstlich-neuronaler Netze in Bezug auf biologische Fragestellungen und Grenzen der in der Medizin gebrauchten 'Klingeldrahtmodelle' treten hier zutage.

Dennoch geben die Untersuchungsergebnisse bislang mehr neue Fragen auf, als sie Antworten vermitteln. Insbesondere scheinen sie zu belegen, daß eine uns noch völlig unbekannte Informatikwelt zu erforschen ist, ehe wir in der Lage sind, unser Ich zu verstehen. Die Fragen sind u.a. Gegenstand des jährlich im November an der GFaI stattfindenden, interdisziplinären Workshops 'Biologieorientierte Informatik und pulspropagierende Netze'.

G. Heinz
GFaI-Berlin, den 1.9.95

Gesellschaft zur Förderung angewandter Informatik e.V. (GFaI),
Rudower Chaussee 5, 12487 Berlin,
Tel. +49-30-63921600, Fax. -1602


...as small is the difference between an incremental distance dx and zero, as small is the difference between an interference network and a pool of neurons. The pool of neurons maps non-mirrored, interference between two fields occurs mirrored...


Liste von Veröffentlichungen

Mail send?

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis - alt

File created Sept. 1, 1995, last redesign 25.3.2013

Dies war der -te Zugriff seit dem 26.8.1996