zurück


Konnten die Computer das Papier ablösen?

von Gerd Heinz

Als die Revolution des Internet in den 1980er Jahren begann, glaubte man fest daran, daß Papier bald überflüssig wird. Der Computer hat doch so viele Möglichkeiten, die Papier nicht hat: Er kann Videos darstellen, er kann in Millisekunden Dokumente um die ganze Welt verschicken, viele Autoren können gleichzeitig an Enzyklopedien arbeiten, Menschen können weltweit ihre Erfahrungen teilen, die Datenträger sind winzig und HTML bietet diese herrlichen Hyperlinks, um weltweit Seiten zu verlinken.

Gibt es Risiken?

Inzwischen sind uns Risiken bekannt: Computersprachen und -Formate sind einem ständigen Wandel unterlegen. Neue Tools tauchen auf, während alte verschwinden. Und mit ihnen deren Formate. Die Computer wandeln sich beständig.

Hatte man um die Jahrtausendwende einen PC, so hat man 2020 ein Handy (Mobilphone) mit anderen Bedienoptionen und anderen Betriebssystemen. Seiten, die vor 30 Jahren erstellt wurden, sind heute oft nicht mehr lesbar, weil die Programme nicht mehr installierbar sind (man denke an alte Textformate, an WordStar, Corel-Draw, Ami-Pro etc.).

Auch Betriebssysteme wandeln sich stetig. Alte Werkzeuge können von heute auf morgen nicht mehr genutzt werden. Plötzlich kann der Windows-XP PC mit hunderten installierten Programmen keine Emails mehr empfangen. Dank neuer Internet-Protokolle kann der veraltete, nicht mehr upgrade-bare Browser nur noch wenige Seiten ohne Fehlermeldung darstellen. Man rauft sich die Haare!

Festplatten, USB-Speicher und SD-Karten haben eine sehr begrenzte Lebenszeit. Man weiß nie, wann sie ausfallen. Auf der anderen Seite fordern Behörden, wie Finanzämter, eine Mindest-Aufbewahrungsdauer.

Damit kippt die Stimmung langsam. Gab es vor zwanzig Jahren noch viele, sehr wertvolle Publikationen im Internet, so wurden die Homepages wissenschaftlicher Institute in den letzten zehn Jahren immer oberflächlicher und platter: Statt Wissen findet man nur noch nichtssagende Personenfotos und Selbstbeweihräucherung. Statt fachlicher Artikel findet man ideologiegetragenes Marketing.

Analogien zum Fernsehen tauchen auf. Als Manfred von Ardenne seine ersten Fernseher entwickelte, glaubte man, das Fernsehen werde eine gigantische Verbreitung von Wissen mit sich bringen. Als erste Konzerte, Sportveranstaltungen oder Theaterstücke übertragen wurden, gab es empörte Stimmen, die vor einem Sittenverfall warnten.

Heute schalten die meisten Zuschauer nur noch ein, um zu entspannen, um Nachrichten, Sport, Krimis und Seifenopern zu konsumieren. Selbst Wissenschaftssendungen werden immer oberflächlicher, fehlerhafter und banaler. Sendungen zu brisanten Themen (Covid, Klima, Energiewende) blenden die kritischen Teile der Materie einfach aus. Sie werden durch Framing oder Desinformation ersetzt.

Zum Sittenverfall kommen steigende Gefahren. Teils sogar staatlich organisierte Internet-Kriminalität sorgt für Unsicherheiten im Internet. Firmen und Einrichtungen können aus dem Ausland auf Wochen sabotiert oder stillgelegt werden.

Die Gefahr eines Sonnensturms oder eines menschengemachten, atomaren EMP (elektromagnetischer Puls) ist real vorhanden. Aber niemand denkt auch nur im Traum daran, was passieren würde, wenn eine Millionenmetropole einem EMP oder einem solaren Flare zum Opfer fiele.

Es käme zum langanhaltenden Blackout mit Millionen Toten, weil ohne Internet überhaupt nichts mehr funktioniert: Weder die Logistik der Kaufhallen, noch der Notruf vom Handy. Es gäbe weder Wasser, noch Heizung, noch Benzin, noch Abwasserentsorgung, noch Kommunikation. Wer hungert, soll auch frieren, sagt der Volksmund.

Vom Wandel der Formate

Wurde die Dissertation 1987 mangels PC noch mit Schreibmaschine geschrieben, so wurde deren Kurzfassung 1989 bereits am PC mit WordStar (*.ws) versucht. Grafiken wurden als Bilder eingeklebt, ein Formeleditor existierte noch nicht. Für die Bilder wurden im Textfile Lücken freigehalten, nach dem Ausdruck wurden die Bilder eingeklebt oder in den Text gezeichnet.

Microsoft verbreitete sein Rich-Text-Format *.rtf (1987) sowie sein *.doc -Format (Word für Windows, 1989) mit dem Windows -Betriebssystem als weltweiten Standard. Händler verkauften Word für Windows mit winzigem Aufpreis gleich mit dem IBM-PC. Zum Schreiben einer Bestellung oder eines Briefes reichte das aus.

Allerdings ließ sich 1991 mit Word für Windows noch keine wissenschaftliche Publikation schreiben, Formatierungen und das Einbinden von Formeln und Bildern waren eine Zumutung. Auch war es für andere Programme oft nicht möglich, Doc-Files zu importieren. Nicht zuletzt wandelte sich das Doc-Format beständig und erzeugte immer mehr Formatierungs-Overhead. Doc-Files über 50 Seiten brachten die Gefahr eines Absturzes von Windows mit kompletter Zerstörung des bearbeiteten Dokuments. Meine Praktikanten und Diplomanden konnten ein Lied davon singen.

Schon 1988 erschien Lotus Ami Pro für Microsoft Windows, ursprünglich eine Entwicklung der Samna-Corp. (*.sam), die von Lotus übernommen wurde. Das Programm erreichte eine bis heute (2023) nie wieder erreichte Effizienz in der Textverarbeitung.

Die Files waren kompakt, es unterstützte WYSIWYG (what you see is what you get) und in eingeschränktem Umfang auch DTP-Funktionalität (desktop-publishing). Es besaß einen Formeleditor, konnte Bitmaps (BMP, PCX) einbinden, man konnte rechnende Tabellen erstellen, Emails versenden oder Index und Quellenverzeichnisse erstellen. Auch Serienbriefe mit Adressfiles konnten geschrieben werden.

Alle Formatierungen ließen sich in Style-Files speichern (*.sty), die mit anderen Texten automatisch über den Stylesheet-Namen geladen werden konnten. So konnten ganze Bücher Kapitel für Kapitel in identischer Formatierung geschrieben werden, deren Inhaltsverzeichnisse, Quellenverzeichnisse und Indexverzeichnisse automatisch erstellbar waren. Das Buch "Neuronale Interferenzen" (NI93) entstand 1993 mit Ami Pro. Allerdings blieb Ami Pro, wie Word, ein proprietäres Format.

Natürlich kamen auch professionelle DTP-Programme auf den Markt, man denke an LaTeX- Varianten, wie zum Beispiel LyX. Allerdings besaßen diese für den Gelegenheitsnutzer Nachteile. Einerseits blies das Format die Filegröße auf, andererseits waren sie für den Gelegenheitsnutzer meist zu kompliziert.

Wurden die ersten Fernseh-Dokumentationen zur Akustischen Kamera (AK) 1997 noch auf Magnetband-Kassetten "VHS Video Cassette" im analogen Fernsehformat PAL (im Ausland auch SECAM oder NTSC) an die Akteure gesendet, so gab es sie ab der Jahrtausendwende im digitalen AVI-Format auf CD oder später auf DVD.

Gegen 2005 wurde das MP4-Format populär, da es im Speichervolumen viel Platz sparte. Für die Homepage der AK bedeutete dies jedesmal extrem zeitraubende Format- Konvertierungen, zumal alte Formate recht schnell nicht mehr unterstützt wurden.

Dasselbe spielte sich bei Bildern ab. Erste akustische Bilder wurden noch im BMP- Format gespeichert, ab Ende der neunziger Jahre kamen JPG und GIF in Mode, da sie von Internet-Browsern, wie Netscape unterstützt wurden und deren Quelltexte veröffentlicht wurden.

Klänge konnten anfangs als WAV gespeichert werden. Zur Jahrtausendwende kam MP3 auf. Jedesmal hatte man Files der Homepage zu konvertieren und sie in HTML neu einzubinden.

Urheberrecht

Verlinkt man einen extrem wertvollen Beitrag auf den eigenen Seiten, so kann man oft schon nach zehn Jahren damit rechnen, daß er nicht mehr existiert. Kopiert man ihn aber, so droht Ungemach.

Eine zu hohe Zahl von ausgebildeten Rechtsanwälten sorgt für dieses Ärgernis. Arbeitslose Rechtsanwälte im Home-Office entdeckten einen neuen Broterwerb: den Schutz des Urheberrechts (Copyrights) im Internet.

Fortan hat man mit Anzeigen zu rechnen, wenn man eigene Papers oder eigene Fernsehsendungen ohne schriftliche Erlaubnis durch den Rechteinhaber (Verlag oder Fernsehanstalt) auf der eigenen Homepage hochlädt, siehe die Presseseite der akustischen Kamera, auf der irgendwann fast alle Fernsehdokumentationen verschwanden, weil eine ausdrückliche Erlaubnis von Fernsehanstalten oder Verlagen nachträglich oft nicht mehr schriftlich zu erlangen ist.

Nach 2005 kamen zwar Videoarchive der Fernsehanstalten im Internet in Mode, aber auch von dort konnten ausgestrahlte Wissenschaftssendungen höchstens zwei bis fünf Jahre lang heruntergeladen werden, ehe sie vollständig aus dem Wissensschatz der Menschheit verschwanden.

War es bis 2005 möglich, solche Videos noch ins Internet hochzuladen, riskierte man später Anzeigen für angebliche Urheberrechtsverletzungen. Allenfalls auf (nichtöffentlichen) Konferenzen konnten solche Videos noch einem Kreis von Bekannten zugänglich gemacht werden: Dort sorgten sie im Abendprogramm stets für große Heiterkeit und Aufmerksamkeit.

Stellt sich die Frage, ob das Urheberrecht hier nicht elementarste Interessen der Gesellschaft verletzt: Es scheint doch wohl ein höheres Gut zu sein, solche Inhalte zu bewahren und der Allgemeinheit zugänglich machen zu können, als Urheberrechte derer zu schützen, die überhaupt kein Interesse und keine Möglichkeit mehr haben, ihre Produktionen später nochmals zu verwerten, d.h. sie in bare Münze umwandeln zu können?

Oft ist es deren einzige Chance, Geld mit dem eigenen Werk nachträglich zu verdienen, indem man Urheberrechtsverletzungen einklagt. Aber Zeitaufwand und Ertrag stehen hier wohl in keinem Verhältnis. Die Bewahrung von Wissen und die Wissensvermittlung an Kinder und Enkel leidet unter dieser absurden Rechtsauffassung. Um es klar zu sagen:

Summa summarum

Während Bücher das gespeicherte Wissen oft über hunderte Jahre preisgeben, verschwindet das Wissen auf dem Computer und im Internet nach kürzester Zeit.

Nun könnte man einwenden, daß es ja noch irgendwo auf Festplatten, DVD oder USB-Sticks konserviert ist. Aber diese fallen recht schnell aus, oder sind bald nicht mehr lesbar, wenn neue Stecker, Schreibprotokolle oder Betriebssysteme eingeführt werden. Außerdem ist Datensicherung ein langwieriger Job, der immer die reale Gefahr birgt, daß neue Daten durch alte überschrieben werden.

Nur frage ich mich: Wie irrational ist es eigentlich, diese Zeilen im Internet hochzuladen? Vielleicht ist da doch noch ein verborgener Hoffnungsschimmer? Wahrscheinlich ist es einfach zu herrlich, mit einem Klick einen Link öffnen zu können, ohne wissen zu müssen, wo auf der Erde dieses Wissen gespeichert ist!




Zurück zum Anfang
Created Oct.7, 2023
Mail to info@gheinz.de
Besucher seit dem 6. Dez. 2021: